„Der Sport sehnt sich nach Autorität“

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Michael Reinsch schrieb seit den 90er Jahren für die F.A.Z. aus Berlin über Sportpolitik und gilt als einer der kundigsten Journalisten auf diesem Gebiet. Jetzt ist er in den Ruhestand gegangen. Anlass für Landessportbünde, um ihn selbst zu interviewen über seine Sicht auf Politik, prägende Persönlichkeiten, den DOSB und den Sportverein der Zukunft

Herr Reinsch, Sie haben über viele Jahrzehnte die Sportpolitik für die Frankfurter Allgemeine Zeitung begleitet. Hat sich Ihr Bild von Sportverbänden mit der Zeit verändert?

Also die meisten Verbände werden von starken Persönlichkeiten geprägt. Es muss nicht immer der Präsident sein, oft sind es die, die das hauptamtlich machen. Und es war immer extrem hilfreich, wenn man als Journalist zu diesen starken Persönlichkeiten irgendeine Möglichkeit des Austauschs entwickelt hatte. Gleichzeitig sind Verbände auch Tanker, die einen Kurs verfolgen und man weiß gar nicht, ob die überhaupt noch auf Ruderbewegungen reagieren.

Wir nehmen positiv zur Kenntnis, dass wir eine Richtung verfolgen. Wo funktioniert denn Sportpolitik genauso wie andere Politik? Und wo hat sie Eigenheiten, die sie von anderen Politikfeldern unterscheidet?

Im Bund funktioniert Sportpolitik komplett anders als der Rest. Die Mitglieder des Sportausschusses haben nicht wirklich was zu sagen. Die Missachtung der Fraktionen, in diesem Falle der SPD-Fraktion gegenüber dem Themenfeld Sport, drückt sich schon allein durch die Entscheidung aus, einen Mann, der für den DDR-Sport steht mit allem, was dazugehört, unter anderem auch Doping, mit dem Vorsitz zu betrauen. Oder der Bewegungsgipfel: Da wurden viele richtige Dinge gesagt. Aber eigentlich war es ein Schuss in den Ofen. Das war einfach als Bühne gedacht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die ernsthaft ein Ziel hatten, für das sie im Budget etwas hätten einstellen wollen.

Und auf Landesebene?

Da sind die Wege kürzer. Da kennt man sich. Da weiß man, was der Sport leisten kann und warum er das leisten muss. Also ich sehe das im Land Berlin. Ich sehe das zum Teil in Brandenburg. Ich höre das manchmal auch aus anderen Ländern. Da ist Sportpolitik ein ganz wichtiges gesellschaftspolitisches Feld. Es sei denn, es wird da irgendwie rumgedröhnt von Medaillengewinnen. 

Würde sich etwas ändern, wenn der Sport als Querschnittsthema ins Kanzleramt käme, so wie die Kultur?

Natürlich. Denn man muss Sport anders angehen und auch die Spitzensportförderung relativieren. Sport hat auch auf nationaler Ebene mittlerweile so viel andere Ziele, oder sollte sie haben, als Spitzensportförderung. Dann könnte man eben dafür sorgen, dass der Bewegungsmangel, zu dem unsere Kinder ja mehr oder weniger erzogen werden, ganz anders angegangen wird. Man könnte den Ganztag nutzen. Man könnte tatsächlich Sport und Bewegung zum Teil der Prävention auf dem Feld der Gesundheit machen. Man könnte Sport nutzen für Integration. Für Inklusion.

Wie analysieren Sie denn gerade die Situation im deutschen Leistungssport?

Es ist wie ein Mantra, dass seit den Sommerspielen in Barcelona 1992 alles bergab ginge. Und wir deshalb dringend eine Spitzensport-Reform bräuchten. Was mich in der Diskussion total überrascht hat, war, wie sehr sich der organisierte Sport nach Autorität sehnt, nach einem Durchgriff von oben bis unten, mit einer Art Übertrainer, der da sitzt und sagt, wir machen jetzt dies und wir machen jetzt das.

Kommen wir einmal zu den Präsidenten im DOSB. Ist das ein Kontinuum oder war es von Präsident zu Präsident ganz unterschiedlich?

Herausragend war natürlich die Ära Hörmann inklusive ihrem Ende. Da hatte der Sport den autoritären Anführer, nachdem er sich immer gesehnt hat. Der wollte Sachen durchpauken und hat Menschen, wie soll man das jetzt sagen, er hat sie schlecht behandelt. Also ich weiß, dass er Leute angeschrien hat, die anderer Meinung waren. Das war eine Ära, die dem Sport überhaupt nicht gut getan hat.

Was ist denn aus der Ära Thomas Bach hängen geblieben bei Ihnen?

Dass Bach unfassbar fleißig war, zumindest was seine Touren angeht. Ich konnte in Deutschland hinfahren, wohin ich wollte, ich bin immer Thomas Bach begegnet. Ich habe dann gesagt: Sie hier! Und er antwortete: Ja, ist ungefähr mein fünfter Termin heute, ich war schon da und da. Und ich sage: Haben Sie jetzt Feierabend? Nee, sagt er, ich fahre noch da und da hin, und dann fuhr er überall hin, sprach ein Grußwort, schüttelte Leuten die Hände und dann hat er meistens noch ein, zwei Leute getroffen, mit denen er irgendwas Wichtiges bereden musste und dann saß er wieder in seinem Auto und fuhr weiter. Das hat mich total beeindruckt. Dieser Vorwurf, er hätte sich in dieser ganzen Zeit um nichts anderes als den Spitzensport und seine eigene Karriere gekümmert, kann ich aus eigener Beobachtung überhaupt nicht unterstützen.

Wie kann es dann sein, dass er in keinem Land so eine schlechte Presse gehabt hat in den letzten anderthalb Jahrzehnten wie in Deutschland?

Die Schwierigkeiten von Bach und der Presse kann ich nicht wirklich erklären, ich kann sie nur beschreiben. Ich war mit dem Kollegen, der für uns vom IOC berichtet, in Paris bei den Olympischen Spielen bei der Abschluss-Pressekonferenz von Sebastian Coe, dem Präsidenten des Welt-Leichtathletik-Verbandes. Der Kollege war extrem geschockt, wie kuschelig die Pressekonferenz war, wie liebedienerisch die britischen Journalisten waren. Und wie ein, zwei Journalisten Coe eher Stichworte gegeben haben, als ihm Fragen zu stellen. Im Vergleich dazu sagt er, ist das, was Bach in jeder Pressekonferenz durchmacht, ein Spießrutenlauf. Also, Coe umgibt sich mit Beratern, Sprechern sonstigen Leuten, die das Geschäft Meinungsmache und Meinungsmanipulation wirklich beherrschen. Deswegen glaube ich auch, dass er Chancen hat, IOC-Präsident zu werden.

Um bei den Personen zu bleiben: Wenn Sie jetzt zurückblicken, gibt es eine Sportfunktionärin, einen Sportfunktionär, der Sie jenseits des Fleißes wirklich beeindruckt hat?

Es gibt eine Persönlichkeit, die Sportpolitik gemacht hat, die ich herausragend fand: Max Hartung.

Hartung ist ein starker Verfechter, Athleten nicht nur nach ihrer Leistung zu beurteilen.

Es gibt einen Beitrag von Athleten jenseits ihrer sportlichen Leistung. Das ist ja hoch sportpolitisch. Leistungssport fängt ja bei der Förderung von Kindern an. Und Kinder ausschließlich nach leistungssportlichen Kriterien zu bewerten, halte ich für extrem unfair. Weil wir aus der sportwissenschaftlichen Forschung wissen, dass die erst mit 14, 15, 16 ihre eigentliche Sportart finden. Und da ist es natürlich gut, wenn sie dann schon selbstständig sind, wenn sie wissen, was sie wollen. Es ist übrigens das Umgekehrte der Eliteschulen des Sports. Ich bin sicher und ich hoffe, dass Sie mir gleich Gegenbeispiele sagen werden, aber in den Eliteschulen wird den Kindern suggeriert, dass die Olympiateilnahme das größte und wichtigste Ziel ihres Lebens sein sollte, unkritisch dem Leistungssport gegenüber und all seinen Auswüchsen.

Der Alltag der Eliteschulen sieht in der Tat anders aus. Und Themen wie Doping und Werte des Sports sind dort längst Bestandteil des Unterrichts.

Aber man muss schon mit der Lupe suchen, um eine Eliteschule des Sports zu finden, wo der Gemeinschaftskundelehrer dann auch mal sagt, so jetzt beschäftigen wir uns mal mit dem IOC und gucken mal, ob das gerecht ist oder ungerecht, wie das hier in Deutschland betrachtet wird. Die viele Kritik oder die Abstimmung in München und Hamburg gegen Olympische Spiele – wo kommt das denn eigentlich her? Das finde ich ganz wichtig. Also man muss die Kinder eben auch zur Selbstständigkeit erziehen und ihnen die Möglichkeit geben, sich und ihr eigenes Tun zu hinterfragen. Wenn sie es dann nämlich noch weitermachen, dann ist es richtig gut.

Hat Sie außer Max Hartung noch jemand beeindruckt?

Manfred von Richthofen hat mich dadurch beeindruckt, dass er wirklich alles ehrenamtlich gemacht hat. Der hat nie eine Reisekostenabrechnung gestellt. Er war also Sponsor seines Verbandes. Kann sein, dass er es nicht nötig hatte. Aber wir kennen eben auch welche, die haben es nicht nötig und rechnen trotzdem noch alles ab. Als nächstes fällt mir Peter Keen ein, britischer Sportfunktionär, mit dem ich ein sehr offenes Gespräch darüber hatte, wie die ihren Erfolg gemacht haben. Kern der Sache: Guckt nicht auf die Medaillen, guckt auf die Menschen, mit denen ihr umgeht. Wenn ihr ein Talent identifiziert, jemanden, der eine Medaille gewinnen soll, dann ist das ein kommender Olympiasieger und eine herausragende Persönlichkeit. Den müsst ihr entsprechend unterstützen, finanziell, in jeder Hinsicht. Ihr müsst ihm viel Freiheit dafür geben, also nicht autoritär sein.

Gab es, zum Beispiel bei Olympischen Spielen, Momente, die für Sie Augenöffner waren?

Bei den Spielen 2012 in London bin ich zum Schießen gegangen. Da gab es drei oder vier Athleten aus dem arabischen und asiatischen Raum, die alle in Warendorf gelebt hatten und Mitglieder irgendeines Bundesliga-Vereins waren. Dann gab es einen Trainer, der dort saß und an seiner Box wehte glaube ich die italienische Flagge und er sagte, ich bin der italienische Nationaltrainer. Die Athleten aus dem arabischen und asiatischen Raum sagten, Moment, aber wir haben doch zusammen trainiert. Und dann betreute der die auch. Und dann war er aber auch irgendwie für ein paar Deutsche da. Das war total irre. Für mich ist das eigentlich Olympia. Warum sollen die, die vier Jahre lang ununterbrochen ganz eng und ganz vertrauensvoll zusammenarbeiten, auf einmal bei Olympischen Spielen so tun, als wären sie Gegner und würden sich nichts gönnen? Sie gewinnen nicht für irgendein Land, sondern für sich.

Welche Konsequenz ziehen Sie daraus?

Zum Beispiel die Notwendigkeit, mehr ausländische Trainer nach Deutschland zu holen. An unseren Olympiastützpunkten und sonstigen Leistungszentren gibt es die tollsten Bedingungen. Aber da einen Holländer, einen Amerikaner, einen Briten oder so reinzuholen, geht eigentlich nicht. Das heißt, manchmal geht es eben doch, aber nur inoffiziell. Dabei spielt natürlich auch die Bezahlung der Trainer eine Rolle.

Sind in Ihrer Zeit auch gute und enge Bekanntschaften mit Sportlern entstanden?

Das ist ein wunder Punkt bei mir. Ich duze, glaube ich, überdurchschnittlich viele Athletinnen und Athleten.

Warum ist das ein wunder Punkt?

Weil viele Journalisten aus Gründen der Distanz Wert auf das „Sie“ legen. Wir sind aber keine politischen und keine Wirtschaftsjournalisten. Wir sind Sportjournalisten. Unser Brot ist die Personalgeschichte. Wir erzählen auch keine Wettkämpfe nach. Wir erzählen Lebensgeschichten. Wir erzählen Dramen. Wir schreiben Porträts. Und diese Art von Berichterstattung erfordert eine ganz andere Offenheit auch zwischen Journalisten und Athleten. Wir erwarten oft, dass die Athleten und Athletinnen uns sehr persönliche Dinge erzählen. Und es ist wahnsinnig erstaunlich, wie sehr sie über sich selbst reden können, als ob sie an einem Auto stehen, die Motorhaube aufmachen und erklären, was da gerade funktioniert und was nicht und wo es stottert.

Ein sehr präsentes Bild aus den Sportverbänden ist das der Pyramide: unten die Breite, oben die Spitze. Stimmt dieses Bild für Sie?

Naja. Ich fange mal unten an, an der Basis. Hier fängt die Bewegung an, aber der Bewegungsmangel ist doch wirklich besorgniserregend. Und falsch am Bild der Pyramide finde ich, dass sie spitz nach oben zuläuft. Dabei sollte es doch das Ziel sein, dass Kinder und Jugendliche, die zum Segeln oder Skaten oder Laufen oder Tennis kommen, ihren Sport ihr Leben lang auf ihrem Niveau weiterbetreiben. Wenn in unserem Alter die Menschen noch Sport treiben, finde ich das auch gesellschaftlich extrem begrüßenswert. Das heißt, keine zulaufende Spitze, sondern im Grunde bleibt es breit. Vielleicht muss man den Sport eher dreidimensional denken. Es gibt auch Menschen, die das verstanden haben. Und dazu fällt mir auch eine beeindruckende Persönlichkeit ein.

Erzählen Sie.

Es geht um das Lebenswerk eines Basketballspielers. Das ist einer der ganz, ganz wenigen Sportler, mit dem ich mich über die Jahre angefreundet habe, durch das, was er getan hat. Das ist Henning Harnisch. Seine letzten Jahre als Basketballprofi hat er in Berlin verbracht, ist hier in der Stadt geblieben, war ein Jahr Teammanager bei ALBA Berlin und hat dann aufgehört, um sich um Kinder- und Nachwuchssport bei ALBA zu kümmern. Damals habe ich in einem Kommentar sinngemäß geschrieben: Ist nicht schade, dass er aufhört, jetzt kümmert er sich endlich mal um was Sinnvolles. Ich habe ihm also nicht unterstellt, dass er im Profisport gescheitert ist, sondern habe das ernst genommen. Das ist ihm wiederum positiv aufgefallen. So herrschte, obwohl wir uns schon Jahre kannten zu dem Zeitpunkt, irgendwie eine positive Schwingung zwischen uns, die das sicher auch befördert hat, dass wir immer wieder ins Gespräch kamen.

Warum ragt das, was Henning Harnisch tut, heraus?

Er hat mit ALBA Berlin ein System aufgebaut, das heißt „Sport vernetzt“. Ich war vor wenigen Monaten bei so einem „Sport vernetzt“-Treffen, um mir mal klar zu machen, wie groß das mittlerweile ist. Ich muss sagen, ich war extrem beeindruckt. Da gibt es in ganz Deutschland Vereine und Organisationen, die nichts anderes im Sinn haben, als den kommenden Ganztag an den Schulen auch dafür zu nutzen, dort mit ihren Sportvereinen und anderen Organisationen ein Angebot zu schaffen. Es gab eine Veranstaltung, da kamen massenhaft Sportstudenten zusammen. Wie auf einer Bühne standen da Praktiker aus verschiedenen Berliner Projekten. Und die haben dann, ich fasse das jetzt mal ganz pointiert zusammen, zu den Studenten gesagt: Leute, wenn ihr die Welt verändern wollt, dann macht Sport mit Kindern. Da habt ihr die größte Wirkung. Da könnt ihr Bäume ausreißen, da versetzt ihr Berge. Und ich glaube, das stimmt. Wenn das die entscheidenden Leute an den Schnittstellen erkennen würden, würde das mit dem Ganztag auch funktionieren.

Ist das wirklich ein Widerspruch dazu, dass Inspiration für Kinder und Jugendliche sehr wohl auch von Spitzenathlet*innen ausgeht, von erfolgreichen Fußball-, Basketballspieler*innen zum Beispiel oder halten Sie das für Wunschdenken?

Robert Harting war wirklich eine Figur, die über die Maßen bekannt war in Deutschland und eine unfassbare Medienpräsenz hatte. Aber ob der einen Diskuswerfer-Boom ausgelöst hat, würde ich strikt bezweifeln. Ich weiß nicht, ob mehr Kinder, ob mehr Jungen und vor allen Dingen Mädchen reiten wollen, dadurch, dass die deutschen Reiterinnen und Reiter in Paris so überaus erfolgreich waren. Ich glaube, da wirkt viel mehr, wenn sie die Chance bekommen, mal in so eine Reithalle zu gehen und ein Pferd zu striegeln und dann vielleicht mal beim Training zugucken. Ich habe meine Zweifel, dass das mit den Vorbildern so funktioniert, wie es das Bild der Pyramide suggeriert.

Wie sieht aus Ihrer Sicht der Sportverein der Zukunft aus?

Wenn er nicht gerade im Dorf beheimatet ist und dadurch limitiert, sollte er so groß sein wie möglich und dadurch so vielfältig wie möglich. Er sollte professionelle Betreuung anbieten können und ja, auch immer wieder neue Angebote machen. Also so, wie es Vereine aus dem Freiburger Kreis tun. Auf den bin ich erst relativ spät in meinem Berufsleben gekommen. Für mich war es extrem wichtig, zu den Tagungen des Freiburger Kreises zu gehen. Das war sozusagen, wie dem Breitensport den Puls zu fühlen.

Und was ist die Rolle, die Sportverbände da erfüllen müssen, wo haben sie noch Defizite, wo müssten sie sich noch stärker einbringen?

Sportverbände begegnen mir bei der Nominierung von Athleten für höhere Aufgaben, bei der Bestellung von Trainern. Ansonsten nehme ich sie als die Organisationen wahr, die wahnsinnig viele widerstrebende Interessen, vorgebracht von Vereinen und deren Vertretern, unter einen Hut bringen müssen. Die Vorstellung, dass ein Verbandspräsident irgendwas verändern könnte, ist relativ schwierig aufrecht zu erhalten. Denn in dem Moment, in dem er etwas anrührt, verliert er die Stimmen, die er braucht, um Präsident zu bleiben. Klar, der Fußballverband ist ein gigantischer gesellschaftlicher Player. Ob er sich nun entscheidet, sich für die Frauen- oder die Männer-EM zu bewerben, oder dieses oder jenes Trainingsformat zu unterstützen, das hat gesellschaftliche Auswirkungen. Es gibt also Verbände, die wahnsinnig viel bewirken können, und es gibt Verbände, die können gar nichts. Die wollen auch gar nichts.

Haben Sie denn aus Verbänden mal Initiativen wahrgenommen, die etwas verändert haben?

Ich fange mal mit einem negativen Beispiel an. 2024 hat Berlin 50 Jahre Berlin-Marathon gefeiert. Die Gründungsgeschichte ist im Kern, dass Horst Milde, ein Konditormeister und Kaufmann, in seiner Freizeit den Laufsport praktisch aus den Verbänden und Vereinen befreit hat. Jeder kann hingehen, sich anmelden und mitlaufen. Daraus und aus anderen Veranstaltungen hat sich eine unglaubliche Straßenlaufszene in Deutschland entwickelt. Und der Leichtathletikverband hat das komplett ignoriert. Jahrelang, jahrzehntelang. Es war also nicht der Verband, der die Läufer vertreten hat, sondern ganz im Gegenteil. Es entwickelt sich immer wieder, wahrscheinlich zum Leidwesen der Verbände, ein starker, selbstbewusster Sport außerhalb von Organisationen.

Fallen Ihnen auch positive Beispiele ein?

Die Schwimmlerninitiative des Landessportbundes Berlin mit dem Schwimmverband hier und dem Berliner Senat. Das rettet Leben. Das verändert Lebensläufe. Schwimmenlernen, das ist wie Radfahren lernen. Man sieht die Welt anders. Und ein weiteres Beispiel ist „Berlin hat Talent“. Am Anfang stand noch allein der Gedanke, wie im DDR-Sport Talente identifizieren zu können, die für Spitzensport geeignet sind. Und der Mann, der das erfunden hat, war der ehemalige Leiter des Berliner Olympiastützpunkts Jochen Zinner. Ein unfassbar umtriebiger Mensch. Im Interview zu diesem ganzen Programm habe ich ihn gefragt, was er denn eigentlich mit denen macht, die sich als komplett unsportlich entpuppen. Das seien doch diejenigen, die größere Aufmerksamkeit bräuchten. Und da ging er sofort rein und sagte: Ja natürlich, um die kümmern wir uns auch. Ich konnte das dann auch besichtigen. Bevor ich die Gruppe sah, fiel mir die riesige Anzahl von Eltern und Begleitungen auf. Die saßen vor der Schulturnhalle und warteten, während hinter einer Glasscheibe die Kinder dann mit einem Coach einfache Übungen machten. Ball werfen und rollen und aufheben. Das war wirklich ein ganz sanfter Sport für Kinder, die offenbar noch nie mit Sport in Berührung gekommen waren. Und mein Eindruck war, deswegen habe ich das gerade auch so beschrieben, dass die komplett überbehütet gelebt hatten bis dahin oder wahrscheinlich auch weiterhin. Dieses Programm fand ich sehr angenehm. Eindrucksvoll und ich habe mir immer ein bisschen zugutegehalten, dass ich durch meine kritischen Fragen gegenüber Herrn Zinner dafür gesorgt habe.

Zum Abschluss noch einmal zurück zum Anfang, zur Sportpolitik auf Bundesebene. Gab es aus Ihrer Sicht da einmal eine Art Sternstunde?

Dass Politik auf Bundesebene mal etwas Bahnbrechendes erreicht hat? Die oft zitierte Dagmar Freitag gehörte zu den Verfechtern einer Anti-Doping-Gesetzgebung. Ich habe das lange für falsch gehalten, dass man eine Gesetzgebung schaffen soll, die nur für einen bestimmten Teil der Bevölkerung gilt. Auch der DOSB unter Thomas Bach hat sich ja mit Händen und Füßen dagegen gewehrt. Dann hat die Politik das durchgesetzt. Das war schon eindrucksvoll.

Hat es denn etwas gebracht?

Das ist eine gute Frage. Das meiste, was da verhandelt wird in den Gerichten, sind ja Fälle mit Dealern von Bodybuildern. Im Spitzensport hat sich wenig getan. Dann kriegt man immer zur Antwort: Es gibt viel zu wenig Schwerpunktstaatsanwaltschaften. Was erstaunlich ist: Dass die Nada so extrem wenig positive Fälle feststellt. Und man fragt sich, woran das liegt? Ob die wirklich alle so sauber sind. Also ich muss heute sagen: Leistung zu manipulieren durch Doping ist etwas, was die Gesellschaft bestrafen sollte. Damals habe ich das nicht so gesehen, heute sehe ich es so.

Das Gespräch führten Dr. Christoph Niessen (Landessportbund Nordrhein-Westfalen), Thomas Behr (Landessportverband Schleswig-Holstein) und Friedhard Teuffel (Landessportbund Berlin).