„Für Videospiele lasse ich den Vereinssport nicht ausfallen“

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Der Landessportbund wird 75 – gegründet am 29. Oktober 1949. Interview mit Vereinsmitgliedern: was sie bewegt und wie sie sich die Zukunft vorstellen

 

Der Ruderer Detlef Pries (Pro Sport Berlin 24 e. V.), der Rollstuhlbasketballer Veli Flier (Behinderten-Sportverein Steglitz e. V.), die Fußballerin Chana von Medem (FSV Hansa 07) und die Modernen Fünfkämpferinnen Wanda Strauß, Hanna Hagemann und Victoria-Sophie Werner sind im Alter von zehn Jahren bis Mitte 70. Wie sehen sie den Sport in Berlin im LSB-Jubiläumsjahr, was bewegt sie und wie stellen sie sich den LSB in Zukunft vor? Dominik Bardow sprach mit ihnen.

Hand aufs Herz: Wer hätte vor diesem Interview gewusst, dass der LSB 75 Jahre alt wird?

Veli Filar (stellvertretend für das allgemeine Kopfschütteln): Nee, das hätte ich nicht gewusst.

Detlef Pries: Ich bin tatsächlich sogar ein paar Monate älter (lacht).

Wer kann denn aus dem Stehgreif sagen, was der LSB macht? Was tut so ein Verband?

Detlef Pries: Für jedes einfache Mitglied ist der LSB eine hohe Ebene. Für eine kleine Vereinsabteilung ist der Hauptverein oder der Fachverband meistens der Ansprechpartner.

Gibt es denn im Alltag Berührungspunkte, wo man mit dem LSB zu tun hat?

Veli Filar: In dem Moment, wo man Lehrgänge hat, die Übungsleiterlizenz macht oder erweitert.

Chana von Medem: Ich mache im Fußballverein nun Bundesfreiwilligendienst über den LSB, der organisiert das. Auch Programme für Trainer*innenlizenzen oder Jugendbegleiter*innen im Sport.

Man könnte also vereinfacht sagen, der LSB ist „Sport im Verein“ oder „organisierter Sport in Berlin“. Was bedeutet Sport denn für Sie persönlich? Sie sind ja alle in Vereinen aktiv.

Victoria-Sophie Werner: Sport ist für mich ein Hobby, ein Ort, um Freunde kennenzulernen, Neues zu entdecken.

Detlef Pries: Sport ist eine Leidenschaft, auch ein großer Teil meines Lebens, durch das Ehrenamt.

Veli Filar: Ich wurde ja als junger Mann regelrecht ins Ehrenamt geschubst. „Wenn du das nicht machst, fällt die Gruppe auseinander.“ Jetzt bin ich seit 25 Jahren im Behinderten-Sportverein Steglitz tätig, übergebe der nächsten Generation und freue mich, was aus den Gruppen von damals entstanden ist.

Chana von Medem: Bei mir war es eine Mischung. Ich wollte schon Trainerin werden, aber es gab auch einfach zu wenige, obwohl mein Verein, der FSV Hansa 07 in Kreuzberg, immer größer wird.

Victoria-Sophie Werner: In unserer Hockeygruppe hat der Trainer auch schon gefragt, ob wir ältere Geschwister haben, die ihm assistieren könnten, weil seine Co-Trainerin ein Jahr im Ausland ist.

Sie sprechen einen wichtigen Punkt an. Sport boomt ungebrochen, der LSB hat rund 780.000 Mitglieder, fast jede dritte Person in Deutschland ist in einem Sportverein, aber es mangelt vielerorts an Trainern und Trainerinnen, an Menschen, die sich im Ehrenamt engagieren.

Detlef Pries: Ja, es fehlt an Leuten, die bereit sind, ein bisschen mehr zu machen als nur ihren Sport und dann wieder abzuhauen. Ich bin jetzt seit 28 Jahren Abteilungsvorsitzender und suche dringend jemanden, der mich ablöst. Vielleicht klappt es ja irgendwann (lacht). Wobei ich sagen muss: Ich hatte immer Leute, die geholfen haben, ohne dass sie ein Amt hatten. Alleine schaffst du das nicht.

Gleichzeitig steigen Ansprüche an Vereine, was sie leisten sollen. Sie sollen ein hochwertiges Sportangebot bieten, Werte vermitteln, auf Vorgaben achten. Ist das ganz schön viel verlangt?

Chana von Medem: Ja, doch. Bei uns gibt es ständig Aufrufe für Trainer*innen. Der häufigste Grund, warum Leute aufhören, ist der Zeitaufwand, dass es für viel Aufwand wenig Entschädigung gibt. Man könnte in der Zeit mehr Geld verdienen in anderen Jobs, darauf sind einige angewiesen.

Veli Filar: Mein Ziel ist daher immer, viele Leute, nicht nur aus der Sportgruppe selber, mit Aufgaben zu versehen, sie einzubinden, von Einzelfallhelfern bis hin zu den Eltern der Teilnehmer. Denn wir haben das Problem wie andere Vereine auch: Es kommt zu wenig Nachwuchs an Übungsleitern.

Hanna Hagemann: Wir haben zwei Trainer und zwei Co-Trainer, aber sind über 30 Kinder, da merke ich auch, dass wir mehr Trainer bräuchten.

Gäbe es denn eine Lösung für dieses Problem? Oft lautet die Antwort: Geld. Ist es so einfach?

Veli Filar: Gut finde ich zum Beispiel die Übungsleiterassistenten, die für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen ins Leben gerufen wurden. Es ist natürlich kein Ersatz für einen Übungsleiter, aber eine Unterstützung.

Kann Digitalisierung Vereine entlasten? Es gibt Apps, um Trainingszeiten zu buchen oder Vorstandssitzungen online zu halten, während Corona wurden Trainingsvideos hochgeladen.

Chana von Medem (schüttelt gleich den Kopf): Das hat überhaupt nicht funktioniert. Man braucht einfach dieses zusammen zum Training zu gehen, zu quatschen und zu lachen, statt zu Hause auf dem Boden zu versuchen, Stabi- oder Dribbelübungen zu machen, während der Fußboden knarzt.

Detlef Pries: Deshalb ist man ja im Verein, um sich in einer Gemeinschaft zu betätigen. Sonst kann man auch ins Fitnessstudio gehen.

Veli Filar: Es braucht einfach diese Gruppendynamik.

Weil Sie Fitnessstudios ansprechen: Leiden Vereine unter der Konkurrenz oder ist sie keine?

Chana von Medem: Wir haben viele Leute, die ganz aus unserer Mannschaft ausgestiegen sind, um im Fitnessstudio anzufangen, einfach um gut auszusehen. Ich gehe auch hin, parallel zum Verein, weil ich nach einer OP Muskeln aufbauen muss, aber merke, das ist überhaupt nichts für mich. Es ist genau das Gegenteil vom Verein: Man geht allein hin, viele schauen sich ständig im Spiegel an.

Detlef Pries: Wobei ich das nicht verteufeln will, wir betreiben als Großverein drei Sportstudios, wo es Kursangebote gibt und sich Gruppen zusammenfinden. Aber ich will als Ruderer in die Natur. Außerdem bin ich Wanderruderer, solche Reisen wären schwer zu organisieren ohne Gemeinschaft.

Um gemeinsamen Sport zu organisieren, schlägt der Verein eben jede WhatsApp-Gruppe.

Veli Filar: In der Jugend habe ich Fußball gespielt mit Unterarmstützen, in der Freizeit mit normal Spielenden, weil es diese Sportart noch nicht organisiert gab. Dann bin ich zum Rollstuhlbasketball, weil es da Ligaspiele gab. Es ist nicht für jeden gleich leicht, Angebote zu finden oder zu schaffen.

Victoria, Hanna, Wanda, bekommt ihr in eurem Alter mit, dass Kinder keinen Bock auf Vereinssport mehr haben oder Sport nur noch digital betreiben wollen, auf der Konsole?

Victoria-Sophie Werner: Ich hatte beim Hockey eine Mitspielerin, die hat aufgehört, nur noch Videospiele gespielt.

Wanda Strauß: Es ist kein Widerspruch. Wir spielen auch, aber würden kein Training dafür ausfallen lassen, aber es ist eine kleine Beschäftigung, nicht dasselbe wie Sport.

Wie soll man sich den Sportverein der Zukunft vorstellen? Müsste er mehr werden wie ein Videospiel, kurzweiliger, portionierter, mit kleinen Belohnungen und Herausforderungen?

Victoria-Sophie Werner: Ich hatte einen Leichtathletik-Trainer, der hatte ein Gerät, das hat beim Sprint gleichzeitig Zeit gestoppt und gemessen wie viele Stundenkilometer du geschafft hast, das hat schon motiviert.

Im Fußball gibt es ja Ansätze: weg vom Groß- zum Kleinfeld, jedes Kind soll den Ball haben.

Chana von Medem: Bei uns im Verein gibt es schon lange Kleinfeldvarianten, für viele Kinder war das Feld zu groß, sie waren oft unbeteiligt. So haben sie mehr Spaß dabei und halten länger durch.

Es gibt das Vorurteil, die jüngere Generation habe einfach keine Lust mehr auf Wettbewerb und Leistungsdruck, wolle nur aus der Freude am Tun heraus handeln. Wie ist das bei euch?

Victoria-Sophie Werner: Bei mir geht es darum, dass ich Spaß habe. Aber auch um das Ziel, dass man Erste oder Zweite werden will. Mein Zwillingsbruder will immer Erster werden und ist sonst sehr enttäuscht.

Hanna Hagemann: Ich könnte keinen Sport machen, wo ich zwar Erste werden würde, aber keinen Spaß hätte.

Wanda Strauß: Oft macht es ja Spaß, wenn ich das Gefühl habe, dass ich gut bin darin, im Vergleich mit Anderen. Ein Wettkampf macht auch weniger Spaß, wenn sich dafür nur wenige Kinder anmelden.

Wo stehen LSB und Berliner Sport beim Thema Inklusion? Sind Sie auf einem guten Weg?

Veli Filar: Nachholbedarf gibt es überall. Es ist niemand perfekt und wir sind noch nicht am Ende, aber im Vergleich zu vor 30 Jahren hat sich relativ viel getan und ich kann nur sagen: Weiter so. Es sind Stellen geschaffen worden, Veranstaltungen, Barrieren wurden abgebaut..

Wird Vielfalt denn überall gelebt im Sport?

Chana von Medem: Ich engagiere mich immer mehr im Fußball und da fällt mir schon auf: Diese ganzen Kampagnen, Plakate und Sprüche sind ja schön gedacht als Statement, aber dann erlebt man Präsidiumswahlen, wo kaum Frauen und POCs (People Of Color, positiv konnotierter Begriff für nicht-weiße Menschen; Anm. d. Red.) dabei sind, sondern hauptsächliche wieder ältere Männer. Ich war auf Fortbildungen, wo von 50 Personen 45 Männer waren und nur fünf Frauen und POCs.

Fühlt man sich als älterer Mann manchmal wiederum zu Unrecht gegeneinander ausgespielt?

Detlef Pries: Ich bin eben ein alter, weißer Mann (lacht). In gewisser Weise finde ich es zu einseitig betrachtet. Ich habe einem türkischen Ruderer geholfen, der Unterricht auf Englisch suchte, dem sonst niemand antwortete. Aufgeschlossen sind wir auf alle Fälle, es müssten nur Leute kommen.

Gäbe es mehr Leute, die sich angesprochen fühlen würden, wenn man sie anders anspräche? Bei manchen Menschen reicht es nicht, auf der Homepage zu schreiben, jeder könne kommen.

Veli Filar: Damit ist es alleine nicht getan. Es geht um die persönliche Ansprache und Nachfragen. Aber man weiß nie, welche Geschichte hinter einem Menschen steckt, was er erlebt hat, zum Beispiel Fluchterfahrungen. Ganz wenige, die wir seit 2015 angesprochen haben, sind im Verein geblieben, obwohl wir Übungsleiter hatten, die Arabisch, Türkisch, Englisch und Deutsch sprachen. Manchmal sind die Erwartungen eben andere...

Wir haben viel über Gegensätze gesprochen, dabei soll Sport diese ja überwinden und die Gesellschaft einen. Ist das schwierig in Zeiten, in denen sie zunehmend in Gruppen zerfällt?

Chana von Medem: Grundsätzlich sollte Politik nicht im Vordergrund stehen im Verein, aber es ist fast unmöglich, diesen Themen komplett aus dem Weg zu gehen, dass es zu Diskussionen kommt und man ungewollt Leute ausschließt, gerade weil man sich nicht politisch positioniert. Detlef, du meintest, alle seien bei euch willkommen. Vielleicht sehen Leute nur weiße Trainer*innen auf eurer Webseite. Das sind oft Kleinigkeiten, sich zu sensibilisieren, ohne da ein großes Fass aufzumachen.

Sollte sich ein Sportverein trauen, groß und gesellschaftlich zu denken, sich Ziele setzen, wie die Alten und Jungen zu bewegen oder darauf beschränken, ordentliche Basics anzubieten?

Veli Filar: Ich finde, es muss beides vorhanden sein. Man muss für alle etwas anbieten, auch für die Älteren, Nordic Walking oder Reha-Gymnastik. In der Generation sind ja viele einsam und kommen wenig heraus. Da ist es wichtig, wenn mal Geburtstag gefeiert, Sektchen getrunken und irgendwo eingekehrt wird, das Vereinsleben auch gelebt wird, nicht nur beim Sommer- und Weihnachtsfest.

Detlef Pries: Man sagt ja heute, der alte Verein sei tot. Danach noch zusammensitzen, das gilt für viele nicht mehr. Für viele ist der Verein Dienstleistungsbetrieb, wo du deine Einheiten absolvierst, unter allerbesten Bedingungen möglichst. Das ist bei uns nach wie vor nicht so, es sind fast zu viele Geburtstagsfeiern für mich (lacht). Unser Verein wird in diesem Jahr 100 Jahre alt, ich habe gerade die Festschrift fertig gemacht. Alle Abteilungen betonen, dass sie nach wie vor Geselligkeit pflegen.

Wie erwartet die jüngere Generation vom Verein? Nur Training? Oder eine Sportfamilie?

Victoria-Sophie Werner: Nach einem anstrengenden Training will ich einfach nur ins Bett (lacht). Aber manchmal gehen wir bei einer Abschlussfeier auch Pizza essen oder machen Ausflüge, das finde ich ganz toll.

Hanna Hagemann: Mit der Schwimmgruppe hatten wir tolle Trainingslager, mit der Akrobatikgruppe gezeltet.

Wanda Strauß: Sportfamilie wäre übertrieben, aber Freundschaft. Es gibt da schon dicke Freundschaften.

„Wenn es den Sportverein nicht gäbe, müsste man ihn erfinden, weil…“ Wie geht der Satz weiter?

Victoria-Sophie Werner (hebt den Finger): ….weil manche Leute brauchen ja Sport, sonst sitzen sie nur herum und entdecken nichts Neues.

Detlef Pries: Ich hatte mir aufgeschrieben: „Weil die Gesellschaft sonst ärmer wäre.“

Veli Filar: Weil es kaum eine Selbsthilfegruppe gibt, die alles auffangen könnte. Es ist ein Ort, wo alle unter gleichen Bedingungen zusammen das Gleiche spielen. Egal, woher man kommt, was man ist, welche Sprache man spricht. Ich habe selbst einen Migrationshintergrund und hatte Schwierigkeiten am Anfang. Sport im Team hat mir dabei sehr geholfen. Es hat sich vieles zum Positiven verändert.

Chana von Medem: Ich habe mir kein perfektes Satzende überlegt, aber finde einfach cool, dass es immer mehr Sportarten sind und es so viele Angebote gibt, womit man immer mehr Leute auffängt.

Hanna Hagemann: … damit man nicht mehr alleine kämpft, sondern im Team und neue Freunde findet.

Wanda Strauß: Mit Freunden hat man auch mehr Motivation hinzugehen, mehr Spaß. Manche Leute wissen gar nicht, dass sie talentiert sind und etwas aus sich machen können, wenn sie nie hingehen.

Wenn Sie jetzt spontan auf einer großen Festveranstaltung eine Laudatio halten müssten auf den LSB, was würden Sie sagen?

Veli Filar: Ich hätte es so formuliert: „Ein schwieriger, langer, steiniger Weg liegt hinter uns. Und die Früchte der Saat, die vor Jahrzehnten gesät wurde, werden erkennbar, vor allem was Inklusion betrifft. Jetzt muss es nur noch zur Normalität werden.“

Was wäre dem LSB zu wünschen oder was würden Sie sich vom LSB wünschen?

Detlef Pries: Man kann ja hin und her reden wie man will, aber es ist auch vieles eine Geldfrage. Ich wünsche dem LSB, dass er eine starke Stimme ist, in den Verteilungskämpfen in dieser Stadt. Wenn es um Sportstättenbau geht, beispielsweise. Und natürlich auch um Übungsleiterausbildung.

Victoria-Sophie Werner: Ich wünsche dem LSB, dass er weiter erfolgreich ist und es weiterhin so tolle Plätze und Hallen gibt.

Sollte man dem LSB vielleicht zum 100. Geburtstag einfach 100 neue Sportstätten wünschen?

Detlef Pries: Das wäre die Idee!

Veli Filar: Die Hälfte an Schwimmbädern würde auch schon reichen (lacht).

Wenn jetzt alle Zettel in eine Zeitkapsel legen würden – wie sähe der LSB in 25 Jahren aus?

Wanda Strauß: Es wird wahrscheinlich noch mehr Wettbewerbe geben, so ähnlich wie jetzt die Talentiade, wo Kinder sich ausprobieren können, dann auch für Jugendliche oder Menschen in jedem Alter.

Victoria-Sophie Werner: Ich habe ausgerechnet, da wäre ich 36. Ich würde mir wünschen, dass es dann noch Sport für alle gibt, auch für ältere Menschen oder mit Behinderung. Dass das Gute bleibt und mehr wird.

Veli Filar: Ich würde mir wünschen, dass das Wort „Inklusion“ nur noch „Normalität“ heißt oder „Wir“, weil gar keine Unterschiede mehr gemacht werden. Dass das „Wir“ gestärkt wird - und gewinnt.