Sport im Ganztag begeistert …

Reportage

… und bietet Vereinen viele Vorteile: Zugang zu ganz neuen Zielgruppen von Kindern und Eltern, die Chance, sich als Organisation zu professionalisieren, sich sozial zu vernetzen und zu verankern.

Stellen wir uns eine Grundschülerin in Berlin vor. Sie steht morgens auf, fährt zur Schule, folgt dem Unterricht, erhält ein gesundes, leckeres Mittagessen – und dann geht es direkt ab in die Turnhalle. Denn die Ganztagsbetreuung an dieser Grundschule führt ein Sportverein als Träger durch. Es wird Sport getrieben und gelacht, später gemeinsam gebastelt, plus Pausen und einer Hausaufgabenhilfe. Als die Eltern die Schülerin um 16 Uhr abholen, ist sie begeistert von Sport, Bewegung und Verein.

So oder so ähnlich könnte man sich, etwas klischeehaft, das Ideal von Ganztagsbetreuung ausmalen. Ob es so überall kommt, wenn ein neues, sogenanntes „Ganztagsförderungsgesetz“ deutschlandweit bis 2026 umgesetzt wird? In Berlin ist Nachmittagsprogramm an vielen Schulen bereits Standard. Aber eher die Ausnahme, dass Sportvereine und -verbände die Aktivitäten dort aktiv ausgestalten.

Dabei kann der Sport als Träger ebenso viel Gutes bewirken wie Kirchen oder Wohlfahrtsverbände. Etwa Kindern Spaß an Bewegung in Gemeinschaft, Werte wie Fairplay und Integration vermitteln. Und es bietet Vereinen viele Vorteile: Zugang zu ganz neuen Zielgruppen von Kindern und Eltern, die Chance, sich als Organisation zu professionalisieren, sich sozial zu vernetzen und zu verankern.

Dennoch schrecken viele Vereine vor der Verantwortung zurück. Es gibt einige Herausforderungen: der organisatorische Aufwand in der Verwaltung, das Fachpersonal finden, pädagogische Konzepte entwickeln und auch nicht-sportbezogene Angebote integrieren, all das kann überfordernd wirken. Und wie soll das dann in der Praxis aussehen? Helfen können da zunächst Gespräche mit Experten.

Wie Christian Haberecht, Leiter der Gerhard-Schlegel-Sportschule des Landessportbunds, der kein klassischer Schulleiter ist. „Viele Menschen verwechseln uns mit Eliteschulen des Sports“, sagt er. Statt von Nachwuchsathleten wird seine Einrichtung von Erwachsenen besucht. „Es kommen viele Haupt- und Ehrenamtliche aus Vereinen her, absolvieren Fortbildungen und erwerben Lizenzen.“

Er hilft also Absolventen in der Aus- und Weiterbildung, später Kindern zu helfen, etwa als Trainerinnen und Trainer. Einige der Fortgebildeten betreuen Sport-AGs an Schulen oder auch im Ganztag. Haberecht kennt sich also aus beim Thema Ganztagsförderung. „In anderen Bundesländern ist da viel mehr zu tun“, sagt er, „in Berlin haben wir weniger Sorgen, weil man Ganztagsbetreuung eigentlich schon kennt.“

Die Große Koalition verabschiedete das entsprechende Gesetz im Mai 2021 im Bundestag. Ziel ist, Ganztagsangebote in Schulen auszubauen und zu fördern, für eine bessere Bildung und Betreuung. Sie soll Kindern und Jugendlichen nachmittags ein unterstützendes und vielfältiges Umfeld bieten, um unabhängig der Herkunft die Chancengleichheit zu erhöhen und berufstätige Eltern zu entlasten.

In Berlin gibt es Ganztagsschulen schon seit den 90er Jahren, ein Gesetz 2003 forcierte den Ausbau. Laut Zahlen des Senats waren 2023/24 gut 84 Prozent der Berliner Grundschulen Ganztagsschulen. „Es ist viel Aufregung im Land wegen der Ganztagspflicht, aber in Berlin hält sich das in Grenzen“, sagt Haberecht. Die Vereine wie auch Schulen hier haben damit bereits ihre Erfahrungen gemacht.

Der LSB will dagegen das ganze Thema Zusammenarbeit mit Bildungseinrichtungen neu bündeln, alles soll aus einer Hand erfolgen, auch eine Handreichung für Vereine soll auf der Webseite erscheinen, an der Haberecht mitarbeitete. „Wir wollen da Vereine und Verbände ermuntern, Träger zu werden.“ Denn in Berlin würden immer wieder neue Schulen gebaut, andere wechselten auch mal den Träger.

Auch wenn Ganztagsschulen an sich nichts Neues in Berlin sind, gibt es immer neue Gelegenheiten. „Man kann sich darauf bewerben und braucht ein pädagogisches Konzept, dann entscheidet sich die Schule sozusagen für einen Anbieter“, erklärt er. „Unser Schwerpunkt ist, dass Kinder in Bewegung kommen am Nachmittag. Sie sitzen in der Schule mehr als genug.“ Der Sport leiste dabei Abhilfe.

Dennoch warnt Haberecht. „Das ist eine große Herausforderung, kleine, ehrenamtlich getragene Vereine können das eher nicht leisten.“ Für sie ergebe es eher Sinn, Schul-AGs anzubieten. „Aber es gibt in Berlin Großvereine und -verbände mit hauptamtlichem Personal, die da in Frage kämen.“ Sie würde der LSB gerne dazu bringen, sich dieser Aufgabe zu stellen, auch im Sinne ihrer Sportart.

„Zum Fußball kommen die Kinder ohnehin, aber gerade für eher kleine Sportarten, die nicht so oft im Fernsehen laufen, ist es eine gute und wichtige Möglichkeit, auf sich aufmerksam zu machen.“ Es gehe aber nicht so sehr darum, Kinder in Vereine bekommen, sondern zu Spaß an der Bewegung. Dieses Ziel teilt der LSB nicht nur mit Vereinen und Verbänden, sondern auch mit der Verwaltung.

Etwa Tillman Wormuth, bei der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie verantwortlich für Schulsport und Bewegungserziehung. „Gerade Bildungseinrichtungen bieten das Potenzial, alle Kinder und Jugendliche zu erreichen“, sagt er. Das sei wichtig, denn Studien zeigten, dass Kinder seit Jahrzehnten motorische Entwicklungsverluste erlitten, vor allem in sozial schwachen Milieus.

Sportferne Zielgruppen zu aktivieren, nennt Wormuth „teilweise einen Kampf gegen Windmühlen“. Doch mithilfe von Vereinen, Verbänden und Schulen glaubt er, ihn am Ende gewinnen zu können.

Wormuths Vision ist eine Verzahnung von Schule und Verein, die am besten bereits in der Kita beginne. Frühe Bewegungsangebote seien die Basis für zukünftige Sportbiografien. „Hier liegt auch eine Riesenchance für den organisierten Sport, der Ganztag lange als Konkurrenz angesehen hat.“

Tatsächlich führe der Ganztag nicht zu Mitgliederverlust, sondern erst zur Einbindung in den Alltag. Es muss ja nicht so kommen wie in den USA, wo Sport hauptsächlich an High Schools stattfindet. Viele Vereine verkannten auch, wie viele Fördermittel und Hilfestellungen es gebe für die Aufgabe.
„Man kann den Ganztag auch als Chance begreifen“, sagt Wormuth, der Träger-Kandidaten wüsste.

Einige Großvereine seien bei den Mitgliederzahlen so explodiert, dass sie die ganze Nachfrage nicht mehr bedienen könnten. In Kooperation mit den Schulen womöglich schon. Und wenn nur als AG. Einen großen Schritt weiter ist da der Stadtsportbund Duisburg, der als Träger von Ganztagsschulen reichlich Erfahrung gesammelt hat und bundesweit so bekannt ist, dass Berlin davon lernen könnte.

„Wir sind die Dachorganisation für 372 Duisburger Sportvereine, mit knapp 98.000 Mitgliedern“, sagt der stellvertretender Geschäftsführer Christoph Gehrt-Butry, „unsere Vereine sind sehr aktiv in der Kinder- und Jugendarbeit. Da war es vor 20 Jahren fast ein logischer Schritt zu sagen: Lasst es uns auch als Ganztagsträger versuchen.“ Mittlerweile arbeite man schon mit 39 Schulen zusammen.

Wobei Gehrt-Butry klarstellt: „Wir sind ein ganz normaler Träger, der alle Angebote abdeckt, die wir mit den Schulen vereinbart haben: ein warmes Mittagessen für alle, die sich angemeldet haben, Hausaufgabenbetreuung oder Lernzeiten, dann offene freie Wahl-Angebote.“ Da lege man natürlich besonderen Wert auf Bewegung. Aber Kinder dürften auch Brettspiele spielen oder sich ausruhen.

„Wir richten uns nach ihren Bedürfnissen“, sagt Gehrt-Butry, man gehe auch auf nahe Spielplätze, nutze sowohl Schulgelände als auch Sportstätten der Vereine. Viel finde natürlich in Turnhallen und Bewegungsräumen statt. Der Betreuungsschlüssel liege bei 1:15, die Gruppengröße bei 25 Kindern. Dabei kommen Angestellte und Honorarkräfte nicht nur in der Nachmittagsbetreuung zum Einsatz.

„Wir sind auch Lebensmittelunternehmer, da wir ja das Mittagessen anbieten“, sagt Gehrt-Butry.>
Die Aufgaben sind vielfältiger, erfordern mehr Struktur, „man kommt in eine andere Rolle hinein“, sagt der stellvertretende Geschäftsführer.  Man beschäftige für die 39 Schulen über 400 Angestellte, allein im Bereich Ganztag. Alles betreut und koordiniert sechs Mitarbeitern auf der Geschäftsstelle.

Man habe laufend Vorstellungsgespräche. „Wir sind auch Ausbildungsbetrieb“, sagt Gehrt-Butry nicht ohne Stolz, „wir haben 32 Erzieher in Ausbildung, dazu acht Studenten in dualem Studium.“ Natürlich gebe es sportliche Erfolgsgeschichten wie eine Jugend-Vizemeisterin im Squash, die im Ganztag entdeckt wurde. Nur wolle man sich nicht auf Sport verengen, biete sogar Chinesisch an. „Das hatte uns eine externe Honorarkraft angeboten, sie haben zusammen Schriftzeichen gemalt.“ Man ist hier offen für Neues, das ist nicht überall so. „Sportorganisationen sind Exoten als Träger, oft eher Sozialverbände oder Kirchen.“ Es komme eben darauf an, wie man seine Rolle definiere. „Wir sehen es als Aufgabe, der Bevölkerung Bewegung nahe zu bringen auf verschiedenen Wegen.“

In Berlin beschränken sich viele Vereine dagegen noch auf die klassische Vereinstrainingsstruktur. Eine Ausnahme ist Alba Berlin, der als einziger Profiverein Träger an nun schon vier Schulen ist; daneben ist nur der SC Charlottenburg als Breitensportverein bekannt, der an zwei Schulen aktiv ist. „Wir sind ja drei Unternehmungen: der Profisport, ein Kinder- und Jugendsportverein, seit 2020 die ALBA Spross gGmbH als Ganztagsträger“, sagt Philipp Hickethier, Geschäftsführer der gGmbH.

Das hat auch mit der eigenen Entstehungsgeschichte zu tun: Zunächst gab es nur Profi-Basketballer, die mit Tus Lichterfelde kooperierten. Ab 2005 wurde nach und nach eine eigene Jugend aufgebaut. Wir wussten: Wenn wir da Mitglieder gewinnen wollen, müssen wir an die Bildungsorte. Deshalb hat Alba immer viele Angebote gemacht, um Kinder und Jugendliche für Basketball zu begeistern.“

An über 150 Schulen wurden Basketball-AGs veranstaltet. „Wenn man aber nur Trainer hinschickt, bleibt man Dienstleister und kann nur bedingt die Schulentwicklung mitgestalten“, sagt Hickethier. Daher wurde Alba Ganztags- und Hort-Träger an einer Grundschule in Wedding, in diesem Jahr kamen drei Schulen in Kreuzberg, Mitte und Karlshorst hinzu.

Etwa 80 pädagogische Fachkräfte hat Alba dafür an den vier Standorten angestellt, „das sind staatlich anerkannte Erzieher oder Schulsozialarbeiter, also Fachleute, die oft einen Sport- und Bewegungshintergrund oder Motivation dafür mitbringen, weil wir sportorientiert arbeiten wollen“.
Doch Alba macht auch Angebote für Kunst, Musik oder Theater, oft in Kooperationen mit Partnern.

Wobei es Unterschiede etwa zu Duisburg gibt. In Berlin beginnt der Ganztag nicht am Nachmittag. „Unsere Erzieher sind Montag bis Freitag 8 bis 16 Uhr an der Schule und einer Klasse zugeordnet“,

erklärt Hickethier, das Mittagessen wird betreut, aber nicht selbst gekocht, Angebote sind nicht auf die Zeit danach beschränkt. So wird eine Pausenliga organisiert, um die Kinder bewegt zu halten. Und auch nach 16 Uhr gibt es noch Angebote, wie Jugendclubs oder Training bei Partnervereinen.

Langfristig kann Alba sich vorstellen, mit mehr Schulen zu kooperieren. „Aber wir stellen uns nicht hin und sagen: So wie wir muss man es machen. Es gibt viele andere Arten, da hineinzuwachsen.“ Reiner Vereinssport im Ehrenamt habe seine Berechtigung. Alba hat aber an der Handreichung zum Träger-Thema mitgeschrieben. „Denn darin liegt eine Riesenchance für den organisierten Sport.“

Denn während bei einigen Sportvereinen die Wartelisten und Sportstätten überquellen, erreichen sie wiederum manche Bevölkerungsschichten gar nicht mehr, denen Sport am meisten helfen könnte. Alba hat sich auch bewusst dafür entschieden, an Brennpunktschulen aktiv zu sein, denen durch den Sportbezug oft ein neues, positiveres Image gegeben wird. Geschweige denn sportliche Vorbilder.

Themen wie Grundschulverordnung, Schulrahmenvereinbarung, offene und gebundene Formen von Ganztagsschulen können anfangs überfordernd wirken. Aber auch dazu gibt es viele Hilfestellungen. Damit die oben erwähnte Grundschülerin nicht nur um 16 Uhr begeistert vom Ganztag heimkehrt. Sondern sich auch am liebsten sofort bei einem Sportverein anmeldet – und ihre Eltern gleich mit.

Von Dominik Bardow